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Die erste Woche – Das erste Team

Bevor wir unsere Erfahrungen der ersten Woche en Detail beschreiben, möchten wir unsere Mission vorstellen.

Über einen deutschen Landwirt in Rumänien erreichte die Westfälische Genossenschaft des Johanniterordens die Anfrage zur Unterstützung der Stadt Siret bei der Bewältigung der humanitären Notlage als Folge des Krieges in der Ukraine. Siret ist eine kleine Stadt an der rumänisch-ukrainischen Grenze mit ca. 7.000 Einwohnern. Die Westfälische Genossenschaft nahm sich dieser Aufgabe an und organisierte innerhalb weniger Tage die notwendigen finanziellen Mittel, Fahrzeuge, Infrastruktur und ein Team an Freiwilligen. 

Die Aufgabe des Teams war klar: Siret braucht Hilfe; wie das genau aussehen würde, stellten wir erst vor Ort fest. 

In den zwei Wochen vor unserer Ankunft kamen täglich zwischen 4.000 und 10.000 ukrainische Flüchtlinge über die Grenze. Die Bewohner der Kleinstadt sahen sich einer Situation ausgesetzt, in denen die Straßen voll mit heimatlosen Familien waren. Schnell baute die lokale Feuerwehr ein Flüchtlingslager im Fußballstadion auf und die ganze Stadt half mit, die Flüchtlinge zu beherbergen und zu verpflegen. Aus ganzer Welt kamen die ersten LKWs mit Hilfsgütern an, die bei der Versorgung der Flüchtlinge unterstützen sollten. Die Koordinierung der Hilfsgüterverteilung wies der Bürgermeister der lokalen Sozialstation (unsere Partnerorganisation) zu. Während dort alte und sozial hilfsbedürftige Menschen der ständigen Betreuung bedürfen, wurde nun auch noch die gesamte Anlage mit tonnenweisen Hilfsgütern zugestellt. Das Team an Mitarbeiterinnen sah sich der immensen Aufgabe und Verantwortung kaum gewachsen; glücklicherweise halfen alle Bewohner mit. 

Nachdem dieser Ausnahmezustand zwei Wochen andauerte, der Flüchtlingsstrom jedoch langsam abschwächte und die lokale Bevölkerung ihrem Alltag wieder nachgehen musste, sah sich die Sozialstation alleingelassen. Obwohl die Flüchtlinge soweit ausreichend versorgt waren, erhielten sie täglich verzweifelte Anfragen aus der Ukraine mit Bitten um Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Medizin, Babynahrung, Windeln, Klamotten, Decken und vieles mehr. Diese Hilfsgüter waren zwar (noch) vorhanden, das Team der Sozialstation hatte jedoch weder die Kapazitäten zur Lagerung der Hilfsgüter geschweige denn die Massen zu sortieren und sie in die Ukraine auszuliefern. Hier kamen wir ins Spiel. 

Nun zu den Erfahrungen der ersten Woche:

Nach einer zweitägigen Fahrt von Bielefeld nach Siret kamen wir (die ersten zwei Freiwilligen) am Abend des 20.3. an und wurden herzlich von Christian Ebmeyer (Landwirt vor Ort), Johann Meyer zu Bentrup (Hauptorganisator der Westfälischen Genossenschaft in Bielefeld), dem lokalen Orthodoxen Priester Daniel (“Pope”) und Anna und Ian White (Farmverwalter von Christian und unsere Ansprechpartner vor Ort) in Empfang genommen und bezogen unsere Unterkunft für die ersten zwei Nächte.

Den ersten Tag verbrachten wir damit uns mit den lokalen Gegebenheiten vertraut zu machen. Wir haben uns die Grenze angeschaut, 2 Sprinter und einen PKW entgegengenommen und unsere lokalen Ansprechpartner kennengelernt. An der Grenze wurden wir dank unserer Johanniter-Einsatzjacken (Vielen Dank an die JUH Bielefeld) direkt von einem anderen Team deutscher Freiwilliger erkannt, die mit einem ganzen Reisebus mit Hilfsgütern für die Ukraine aus der Nähe von Magdeburg kamen. Einige Schwierigkeiten führten dazu, dass sie ihre Hilfsgüter (insbesondere Dialysematerial für ein Militärkrankenhaus) nicht wie geplant an der Grenze übergeben konnten. Die lokale Feuerwehr und unser Team sprangen ein. Gemeinsam nahmen wir ihnen die Hilfsgüter ab, damit der Bus – inzwischen voll besetzt mit ukrainischen Flüchtlingen – wieder rechtzeitig zurück in Deutschland sein konnte. Die Feuerwehr brachte die erste Ladung über die Grenze; wir in den folgenden Tagen die nächsten. 

Danach ging es für uns zur Sozialstation, um die Leiterin (Gabi) kennenzulernen. Von ihr sollten wir sodann täglich unsere Aufträge entgegennehmen. Außerdem inspizierten und sortierten wir unsere Lagerhalle, um einen Überblick über alle noch vorhandenen Hilfsgüter zu haben. Abschließend ging es in die nächstgrößere Stadt Suceava, um den ersten Großeinkauf zu tätigen und wichtige Nahrungsmittel zu besorgen, die nur noch knapp vorhanden waren. 

Am zweiten Tag haben wir einen Hilfsgütertransport aus Deutschland entgegengenommen und als erste Lieferung in unserer neuen Lagerhalle entladen. Im Anschluss ging es für uns das erste Mal mit vollgeladenen Transportern in die Ukraine. Begleitet wurden wir von Daniel (nicht der Priester, sondern ein Rumäne mit ukrainischen Wurzeln, der aufgrund des Krieges nach Siret gekommen war). Er kannte alle Tricks, die uns einen Grenzübertritt erleichterten. Zu unserer Überraschung war die ukrainische Seite der Grenze sehr streng mit der Grenzüberquerung. Wir belieferten 2 Grundschulen und eine Gemeinde im Raum Czernowitz. Anfangs wussten wir nicht, was uns in der Ukraine erwarten würde, schließlich sind wir in ein Land gefahren, in dem aktive Krieg herrscht. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Südwesten der Ukraine sehr friedlich ist und das Leben dort nahezu normal abläuft. Hätten wir von dem Krieg nicht gewusst, hätte man es dem Straßengeschehen nicht ansehen können. Als wir in den Schulen ankamen, die als Flüchtlingslager dienen, waren die Erfahrungen schon anders. Dort müssen tagtäglich hunderte Menschen, die vom Krieg aus ihren Häusern vertrieben wurden, versorgt werden. 

Am Spätnachmittag kamen wir wieder in Siret an und es warteten zwei neue Teammitglieder auf uns, die in der Zwischenzeit aus Dortmund in Suceava gelandet waren. Mit ihnen ging es in die neue Unterkunft. Pope’s Vater stellte uns ein Teil seines Hauses zur Verfügung, in dem bis kurz vorher noch Ukrainer unterkamen.  

In den nächsten Tagen entwickelte sich eine Routine. Jeden Tag um acht trafen wir uns mit Frühstück in der Tasche an der Sozialstation. Dort warteten Anna und Pope auf uns und Gabi stellte die am Tag anstehenden Fahrten vor. Daraufhin beluden wir gemeinsam die Transporter und es ging los in die Ukraine. Die Fahrerkonstellationen waren immer anders, einzig wichtig war uns, dass immer zwei Leute im Auto sitzen. Daniel war bei jeder Fahrt dabei; ohne ihn würden wir wohl auch nicht so (einfach) über die Grenze kommen. Auch Pope war fast immer dabei. Die beiden Daniels bildeten somit unser lokales Doppelpack und Dolmetscherteam.

In den darauffolgenden Tagen fuhren wir zahlreiche Hilfslieferungen aus. Der Eindruck des ersten Tages, dass eine gewisse Normalität herrschte bestätigte sich. Jedoch nahm diese „Normalität“ mit ansteigenden Kilometern ab und der Krieg wurde immer spürbarer. Das Straßenbild wurde zunehmend von Militärpräsenz geprägt, das Treiben auf der Straße nahm ab und zwei Mal erklangen Fliegersirenen.

Den (inzwischen teilweise bewaffneten) Bürgermeister/-innen, die unsere Lieferungen in Empfang nahmen, sah man die Angespanntheit der Lage, ihre große Sorge um die unsichere Zukunft und ihre Verzweiflung an. Die Ankunft unserer Sprinter wurde sehnlichst erwartet und es waren immer schon mehrere Helfer vor Ort, die beim Ausladen halfen. Nachdem die Wagen leer waren, wurden wir als Dank eigentlich immer zu einem Essen und Kaffee eingeladen. 

Obwohl die Auslieferung in die Ukraine unsere Hauptaufgabe war, haben wir daneben auch viel Zeit damit verbracht, Hilfsgütertransporte auszuladen und das Lager zu sortieren. Nur so konnten wir sicherstellen, dass alle Hilfsgüter ausreichend vorhanden sind und die Sprinter für die Ukraine entsprechend der Bedürfnisse unserer Zielorte packen. 

Die Woche war für uns alle sehr spannend und erlebnisreich. Es war ein Wechselspiel der Gefühle. Während wir ein hervorragend harmonisierendes und fröhliches Team waren und insbesondere unsere lokalen Ansprechpartner Anna und Pope für eine unglaublich offene und herzliche Atmosphäre sorgten; sahen wir uns doch jeden Tag mit der Realität konfrontiert. Die Situation in der Ukraine ist und bleibt dramatisch. Der Bedarf an Nahrungsmitteln, Medizin, Hygieneartikeln und und und ist sehr groß; jede Sprinterladung macht einen Unterschied. Die Dankbarkeit der Menschen vor Ort ist tief. Obwohl wir uns zumeist nicht mit Worten verständigen konnten, sagten Blicke, Umarmungen und Tränen alles.  Wir wurden jedes Mal mit Gottessegen und der eindringlichen Bitte verabschiedet wiederzukommen. 

Als letztes ist noch hinzuzufügen, dass die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Rumänen bezeichnend für diese ist. Dies gilt sowohl uns als auch den Ukrainern gegenüber. Seit Wochen nehmen die Bewohner mehrere tausend Flüchtlinge auf und bringen diese auch in ihren Privatunterkünften unter. Zum Beispiel Daniel the Pope hatte in den letzten Wochen durchgängig bis zu zwei Familien gleichzeitig in seinem Haus wohnen und versorgte sie mit Essen, Kontakten und Tickets zum Weiterreisen.

Wir alle waren froh, zumindest einen kleinen Teil an Hilfe leisten zu können, und werden die Erfahrungen und Begegnungen so schnell nicht vergessen.

Coralie Sandrart